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Endlich kam sie und öffnete: barfuß in Schlappen, ein gehäkeltes Betthäubchen auf dem Kopf, über dem Nachthemd ein Wolltuch mit langen Fransen.
„Kommen Sie nur, es ist alles vorbereitet!"
Auf dem Tisch in der abgedunkelten Wohnstube brannte bereits die Kerze. Daneben ruhte auf einem Kissen aus schwarzem Samt eine kokosnussgroße, bläulich schimmernde Kugel von Bergkristall.
„Nicht anfassen!", warnte Frau Schlotterbeck. „Bei der geringsten Erschütterung trübt sie sich und es kann Stunden, ja sogar Tage dauern, bis man sie wieder verwenden kann."
„Und wozu ist sie gut?", fragte Oberwachtmeister Dimpfelmoser.
„Sie können mit ihrer Hilfe alles beobachten, was sich an jedem beliebigen Ort im Umkreis von dreizehn Meilen ereignet – vorausgesetzt, es geschieht unter freiem Himmel."
Sie setzte sich an den Tisch und fasste das Kissen mit der Kristallkugel vorsichtig an zwei Ecken, dann fragte sie:
„Haben Sie eine Ahnung, wo Kasperl und Seppel jetzt ungefähr sein könnten?"
Herr Dimpfelmoser warf einen Blick auf die Taschenuhr.
„Zehn vor neun ... Jetzt müssten sie unweit der Stelle sein, wo die Brücke über den Moosbach führt."
„Schön, das genügt mir – wir werden sie bald gefunden haben."
Mit spitzen Fingern drehte Frau Schlotterbeck Kissen und Kugel einige Male hin und her.
„Das Einstellen dauert immer am längsten", meinte sie. „Dafür geht es dann, wenn das Ziel gefunden ist, von allein weiter ... Aber wer sagt's denn! Da haben wir ja die Moosbachbrücke – und wenn mich nicht alles täuscht, tauchen dort hinten im Wald schon Kasperl und Seppel auf."
„Wirklich?", fragte Herr Dimpfelmoser.
Frau Schlotterbeck nickte und zog ihn am Ärmel zu sich heran.
„Kommen Sie hierher, an meinen Platz. Es wird besser sein, wenn Sie die beiden von jetzt an selber beobachten. Aber nicht an den Tisch stoßen, sonst ist alles verpatzt!"
Herr Dimpfelmoser gab höllisch Acht. So behutsam wie diesmal hatte er sich sein Lebtag an keinen Tisch gesetzt.
„Bravo!", sagte Frau Schlotterbeck. „Und nun blicken Sie fest in die Kugel – was sehen Sie?"
Zunächst sah Herr Dimpfelmoser bloß einen bläulichen Schimmer in der Kristallkugel, doch allmählich begann sich ein Bild darin abzuzeichnen, das rasch immer klarer wurde – und richtig, nun konnte er Kasperl und Seppel erkennen, wie sie gerade über die Brücke gingen. Auch hörte er ihre Schritte und wenn er die Ohren spitzte, verstand er sogar, was sie miteinander redeten.
„Nun, wie finden Sie das, mein Bester?", fragte Frau Schlotterbeck. „Habe ich Ihnen zu viel versprochen?"
Herr Dimpfelmoser war ehrlich begeistert.
„Ich finde es großartig!", rief er. „Hotzenplotz würde vor Wut aus der Haut fahren, wenn er wüsste, dass Kasperl und Seppel durch Ihre Kristallkugel polizeilich beobachtet werden!"
Vorwärts marsch!
Seit die Brücke über den Moosbach hinter ihnen lag, hatten Kasperl und Seppel das Gefühl, als ob ihre Füße mit jedem Schritt ein halbes Pfund schwerer würden. Am liebsten wären sie jetzt noch umgekehrt.
Um sich Mut zu machen, spielten sie Wörterverdrehen. Das war eines ihrer Lieblingsspiele, Kasperl begann damit.
„Hast du Angst vor dem Räuber Plotzenrotz?", fragte er.
„Ich?", meinte Seppel und tippte sich an den Hut. „Der Kerl hat ja Stieselheine im Kirn!"
„Oder Klaumenpfnödel!"
„Fragt sich, was besser ist. Jedenfalls ist er ein alter Kummdopf!"
„Ein Vindrieh, wie es im Stuch beht!"
„Ein Krohstopf!"
„Ein Aumenpflaugust!"
Je länger sie das Spiel fortsetzten und je mehr Schimpfnamen sie für Hotzenplotz fanden und aussprachen, desto leichter wurde ihnen ums Herz.
Als sie beim alten Steinkreuz ankamen, waren sie fast schon wieder ein bisschen übermütig.
„Halt! Stehenbleiben!"
Die Pfefferpistole im Anschlag, brach Hotzenplotz aus den Sträuchern hinter dem Steinkreuz hervor, diesmal wieder in seinem Räubergewand mit dem schwarzen Hut und der krummen Feder.
„Seid ihr allein?"
„Das sehen Sie ja", sagte Kasperl; und Seppel beteuerte eifrig: „Hei Dringer aufs Ferz!"
„Oha!", rief Hotzenplotz. „Machst du dich über mich lustig, Bürschlein? Was soll der Blödsinn?"
„Oh –, Entschuldigung!" Seppel bekam einen roten Kopf. „Ich wollte natürlich sagen: Drei Finger aufs Herz – wir sind wirklich allein gekommen!"
„Schön", brummte Hotzenplotz. „Und das Geld?"
„Das Geld ist hier drin", sagte Kasperl und schepperte mit der Blechkanne. „Fünfhundertfünfundfünfzig Mark fünfundfünfzig in Münzen."
„Vorzählen!"
„Wie Sie wünschen. Wir haben es zwar schon fünfmal gezählt – aber bitte sehr!"
Seppel nahm den Hut vom Kopf und Kasperl schüttete alles Geld hinein. Dann zählten sie Münze für Münze einzeln in die Kanne zurück. Hotzenplotz sah ihnen scharf auf die Finger und zählte mit, bis sie fertig waren.
„Und nun", sagte Kasperl, „nun geben Sie Großmutter bitte wieder heraus!"
„Großmutter?" Hotzenplotz tat verwundert. „Wieso denn?"
„Weil Sie uns das versprochen haben." Kasperl zog aus der Hosentasche den Eilbrief hervor. „Hier haben wir's rot auf weiß!"
„Dass ich Großmutter freilasse?" Hotzenplotz nahm ihm den Brief aus der Hand. „Ihr könnt wohl nicht richtig lesen, wie? Von Freilassen steht hier kein Wort! Ich habe euch nur versprochen, dass ihr sie lebend wiederseht, wenn ihr das Geld bringt..."
„Eben!", rief Kasperl. „Und was man verspricht, muss man halten – auch wenn man ein Räuber ist!"
„Findest du?"
Hotzenplotz grinste. Dann kniff er das linke Auge zu, spannte den Hahn der Pfefferpistole und sagte:
„Natürlich werdet ihr Großmutter wiedersehen – aber als meine Gefangenen!"
Nun ging alles sehr schnell. Er hob die Pistole, er brüllte: „Umdrehen! Arme nach hinten! Rasch – oder muss ich nachhelfen?"
Kasperl und Seppel waren so verdattert, dass sie alles mit sich geschehen ließen. Hotzenplotz fesselte ihnen die Hände auf den Rücken und band sie an einen Kälberstrick.
„Vorwärts marsch!"
Die Blechkanne mit dem Lösegeld in der einen Hand und den Kälberstrick in der anderen, führte er Kasperl und Seppel davon, in den finsteren Wald hinein.
Wasti
Herr Dimpfelmoser hatte mit wachsendem Unmut beobachtet, wie sich die Dinge beim alten Steinkreuz entwickelt hatten. Als er nun sehen musste, wie Hotzenplotz Kasperl und Seppel gefangen wegführte, verlor er für einen Augenblick die Beherrschung.
„Dieser Schuft!", rief er. „Dieser Schurke! Der Blitz soll ihm in die Knochen fahren!"
Dabei haute er mit der Faust auf den Tisch, dass die Kristallkugel auf dem Samtkissen einen Hüpfer machte.
„Aber Herr Dimpfelmoser!"
Frau Schlotterbeck konnte das Unglück nicht mehr verhindern. Vor ihren Augen verdüsterte sich die Kugel. Es war, als ob schwarzer Rauch aus der Tiefe emporquirlte und das Bild verhüllte.
„Da haben wir die Bescherung!" Frau Schlotterbeck schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Wenn ich Sie nicht gewarnt hätte, würde ich ja nichts sagen, Sie Unglücksmensch! Wie konnten Sie bloß auf den Tisch hauen!"
„Tut mir Leid", brummte Oberwachtmeister Dimpfelmoser. „Was kann man dagegen machen, wenn einen der Zorn packt?"
Frau Schlotterbeck schlug die Kristallkugel in ein schwarzes Tuch ein und räumte sie weg.
„Für mich ist die Sache nicht weiter schlimm", erklärte sie. „In ein bis zwei Tagen kann ich die Kugel wieder verwenden, das lässt sich abwarten. Aber für Sie! Wie wollen Sie nun herausfinden, wohin Hotzenplotz ihre Freunde verschleppt?"
Ach du liebe Zeit, daran hatte Herr Dimpfelmoser gar nicht gedacht! Ob Frau Schlotterbeck ihm da helfen konnte? Mit Kartenlegen zum Beispiel – oder mit Wahrsagen aus dem Kaffeesatz?
„Das alles könnte man selbstverständlich versuchen", meinte sie. „Aber ich will Ihnen ehrlich sagen, dass ich nicht allzu viel davon halte. Ein Hund wäre weitaus besser für Sie – ganz entschieden!"
„Ein Hund?"
„Um ihn Hotzenplotz auf die Spur zu setzen."
Herr Dimpfelmoser kratzte sich im Genick.
„Ihr Vorschlag hat manches für sich. Wie wäre es, wenn Sie mir – Wasti liehen? Das ginge am schnellsten, da brauchte ich nicht erst lange bei meinen Bekannten herumzufragen ..."
„Wasti?" Frau Schlotterbeck tat einen kräftigen Zug an ihrer Zigarre. „Mit Wasti ist das so eine Sache, wissen Sie ..."
„Ist er zu dumm für so was?"
„Im Gegenteil!"
„Oder zu furchtsam?"
„Da kennen Sie Wasti schlecht!"
„Ah, ich verstehe, er würde mir nicht gehorchen ..."
Frau Schlotterbeck winkte ab.
„Sie haben noch gar nichts verstanden, Herr Dimpfelmoser – wie sollten Sie auch? Als Hund hat mein guter Wasti bloß einen einzigen Fehler. Kommen Sie bitte mit!"
Sie führte Herrn Dimpfelmoser zu Wastis Verschlag. Als Wasti sie kommen hörte, begann er zu winseln und mit den Pfoten am Holz zu kratzen.
„Erschrecken Sie nicht, wenn ich öffne – er tut Ihnen nichts."
Frau Schlotterbeck schob den Riegel zurück. Mit lautem Freudengebell stürmte Wasti ins Freie und sprang an ihr hoch.
Herr Dimpfelmoser wich ein paar Schritte zurück und fasste sich an den Kragen.
„Aber – das ist ja ein Krokodil!", rief er fassungslos.
„Eben nicht!", berichtigte ihn Frau Schlotterbeck. „Wasti sieht nur so aus wie ein Krokodil; in Wirklichkeit ist er ein echter Dackel. Meinen Sie, dass ich sonst Hundesteuer für ihn bezahlen würde?"
Tatsächlich trug Wasti ein Halsband mit einer Hundemarke.
„Trotzdem!", sagte Herr Dimpfelmoser. „Das Äußere Ihres – hm – Hundes befremdet mich außerordentlich."
Frau Schlotterbeck zupfte verlegen an ihrem Wolltuch.
„Ich will Ihnen nicht verheimlichen", sagte sie, „dass ich in jungen Jahren neben der Hellseherei auch ein wenig hexen gelernt habe. Und ich gestehe ganz offen, dass es mir großen Spaß gemacht hat am Feierabend ein bisschen herumzuhexen – bis mir dann dieses entsetzliche Missgeschick unterlaufen ist..."
Sie zeigte auf Wasti, der hechelnd zu ihren Füßen lag und genau zu verstehen schien, dass die Rede von ihm war.
„Ich weiß selbst nicht, weshalb ich ihn eines Tages in einen Bernhardiner umhexen wollte. Aus Langeweile vermutlich, nur so zum Zeitvertreib ... Was ich an jenem Unglückstag falsch gemacht habe, ist mir bis heute schleierhaft. Jedenfalls sieht mein armer Wasti seither wie ein Krokodil aus – auch wenn er im Grunde genommen der brave Dackel geblieben ist, der er immer war."
Frau Schlotterbeck hatte feuchte Augen bekommen, sie musste sich schnauzen. „Verstehen Sie nun, weshalb ich ihn vor den Leuten versteckt halte, meinen armen Wasti?"
Herr Dimpfelmoser verstand.
„Und – haben Sie nie versucht ihn zurückzuhexen?"
„Natürlich", sagte Frau Schlotterbeck. „Aber es hat nicht geklappt und da habe ich's schließlich aufgegeben. Sie werden begreifen, dass mir seit damals die Lust am Hexen vergangen ist. Doch genug von den alten Geschichten! Falls Sie sich nicht an Wastis Aussehen stoßen – von mir aus dürfen Sie ihn auf die Räuberjagd mitnehmen."
Ein Dutzend Rotkappen
Hotzenplotz führte Kasperl und Seppel am Strick vor sich her. Sie ließen die Köpfe hängen und hatten Bauchweh vor Wut. Wenn sie Herr Dimpfelmoser im Stich ließ, gingen sie trüben Zeiten entgegen, das wussten sie.
„Na, ihr zwei lahmen Enten – ich glaube fast, ihr habt schlechte Laune. Soll euch der gute Onkel was vorpfeifen?"
Hotzenplotz pfiff sein Lieblingslied, das vom lustigen Räuberleben im Wald. Dazu schepperte er im Takt mit der Geldkanne.
„Hört sich nicht schlecht an, wie? Ich möchte bloß wissen, warum ihr nicht mitpfeift, ihr alten Sauertöpfe, hö-hö-hö-höööh!"
Wenig später entdeckte er unter den Bäumen am Wegrand ein ganzes Nest Rotkappen: mehr als ein Dutzend, bildschön gewachsen und kerngesund.
„Brrr!", rief er. „Stehen bleiben! Dass ihr mir nicht aus Versehen die herrlichen Pilze zertrampelt! Die nehme ich mit, das gibt eine prima Schwammerlsuppe für mich."
Er band Kasperl und Seppel am nächsten Baum fest, zog eines der sieben Messer aus dem Gürtel und schnitt die Rotkappen ab. Dann säuberte er die Stiele von Tannennadeln und Erdkrumen, holte ein großes kariertes Taschentuch aus dem Hosensack, packte die Pilze hinein und knüpfte es über Kreuz zusammen.
„So, fertig!", sagte er. „Und nun rasch nach Hause! Schwammerlsuppe von Rotkappen mag ich nämlich fürs
Leben gern – fast noch lieber als Bratwurst mit Sauerkraut. Bildet euch ja nicht ein, dass ihr was davon abbekommt! Nicht einen halben Löffel kriegt ihr von meiner Schwammerlsuppe, die esse ich ganz allein auf!"
„Ach nein", meinte Kasperl.
Ihm war ein Gedanke gekommen: ein guter Gedanke, der beste seit mindestens vierzehn Tagen.
„Kennen Sie diese Pilze denn überhaupt?", fragte er. „Sind Sie sicher, dass keine giftigen drunter sind?"
„Giftige?" Hotzenplotz tippte sich an die Stirn. „Du hältst mich für sehr blöd, wie? Das sind Rotkappen wie aus dem Bilderbuch, da gibt's keinen Zweifel dran. Und jetzt vorwärts, wir müssen weiter!"
Seit er die Pilze gefunden hatte, war seine Laune noch besser geworden. Von jetzt an pfiff er so laut und falsch und machte dazu mit der Geldkanne einen solchen Krach, dass es Kasperl nicht schwer fiel, mit Seppel heimlich über seinen Plan zu sprechen.
Wenn sie ein bisschen Glück hatten, konnte ihnen die Schwammerlsuppe von großem Nutzen sein; und eigentlich waren sie ja, nach dem vielen Pech in der letzten Zeit, mit dem Glückhaben wieder mal an der Reihe, fanden sie ...
So kam es, dass sie einen ganz vergnügten Eindruck machten, als Hotzenplotz sie zu Großmutter in die Höhle brachte – und Großmutter schloss daraus, dass sie gekommen seien, sie abzuholen.
„Endlich!", rief sie, vor Freude schluchzend. „Ich wusste ja, dass ihr mich hier herausholen würdet, ihr beiden Guten! Was meint ihr, wie froh ich bin, dieses scheußliche Ding da loszuwerden! Das scheuert einem ja Haut und Knochen durch!"
Großmutters linker Fuß steckte in einer Eisenschelle, an der eine lange Kette befestigt war, deren anderes Ende an einem Ring in der Mauer hing. So konnte sie zwar in der Höhle umhergehen und für Hotzenplotz arbeiten, aber nicht weglaufen.
„Ich muss Sie enttäuschen, Großmutter", sagte der Räuber Hotzenplotz. „Kasperl und Seppel sind nicht gekommen, um Sie nach Hause zu bringen: Sie werden hier bleiben – vorläufig wenigstens, bis ich mir überlegt habe, was ich mit ihnen mache. Fürs Erste kommen sie an die Kette und dürfen den Fußboden scheuern!"